An ihm scheiden sich die Geister: für die einen ist er die positive Zentralfigur des 19. Jahrhunderts, der den Deutschen die Einheit gebracht hat. Sie bezeichnen ihn als großen, vorausschauenden Konservativen, als geschickt, verhandlungssicher und loben seine Lebensleistung. Vor dem zweiten Weltkrieg ist dies die gängige Meinung eines großen Teils der an geschichtlichen Vorgängern interessierten Öffentlichkeit. Doch auch ein Lothar Gall bescheinigt in dem 1980 erschienen Buch „Bismarck, der weiße Revolutionär“ Bismarck einen positiven Beitrag zur deutschen Geschichte.
Für die anderen ist er genau das Gegenteil: ein finsterer Reaktionär und geschickter Ausnutzer der Schwächen der demokratischen Bewegungen im Großraum Deutschland in eben jenem 19. Jahrhundert. Die Einheit, so die Bismarckkritiker, ist gewonnen worden durch den Verzicht auf Freiheit und Gleichheit, ja auf Demokratie überhaupt. Als Beleg gilt die Stellung und Funktion des Ministerpräsidenten in Preußen und das sogenannte Drei-Klassen-Wahlrecht, das die Vermögenden/Besitzenden einseitig bevorteilt. Es gibt durchaus Historiker, die von einer unseligen deutschen Kontinuität reden: zuerst Luther, dann Bismarck, dann Hitler, wobei dem mittleren eine Art Brückenfunktion in eine „schwarze“ präziser „braune“ Zukunft zukomme.
Bei der Lektüre des Buches von Christoph Nonn wird schnell deutlich, dass der Autor sich entschieden weigert, diese Kategorien zu benutzen. Der bescheidener Anspruch, den er in seinem ausgesprochen gut zu lesenden Text unter „einige Fragen“ formuliert, ist anders: er versucht eine Verbindung herzustellen zwischen der Frage nach der Person Bismarck und dem damaligen Geschehen der Einigung eines großen Staates in der Mitte Europas. Er verweist darauf, dass diese Einigung nicht notwendigerweise mit einem deutschen Hegemoniestreben verbunden sein musste, wohl aber mit einer durchaus komplizierten und verschachtelten Bündnispolitik. Dabei ist ihm klar, dass jede geschichtliche Darstellung subjektive Elemente enthält. Er möchte gerne die Äußerungen Bismarcks berücksichtigen, „vor allem seine zeitnahe entstandenen Briefe und Lagebeurteilungen“.
Und so beginnt er den Lebensweg Bismarcks nachzuzeichnen und fördert dort Erstaunliches zu Tage. Seine Mutter erzog ihn „kalt“ und ohne Herzenswärme. Erst in der Ehe mit Johanna von Puttkamer fand Bismarck seine emotionale Heimat. Dass er ein fast verbummelter Student war, ist mir nicht unbekannt gewesen, dass er aber recht frühzeitig den Drang zum Auftreten in der Politik und Diplomatie verspürte, war mir neu.
Hochinteressant sind die Gedanken, die Nonn zum Thema, „Revolution 1848“ äußert. Für ihn sind die revolutionären Unruhen dieser Jahre nicht auf eine umwälzende demokratisch orientierte Grundhaltung zurückzuführen, sondern genau auf das Gegenteil, nämlich auf eine Revolte, eine rückwärtsgewandte Sehnsucht nach der heileren Welt des 18. Jahrhunderts. Das trifft für Handwerker zu, vor allem aber auch auf die Menschen, die mit den zunehmenden Veränderungen der Technik im Bereich der Landwirtschaft konfrontiert werden. Bismarck selber verstand es in dieser Zeit vorzüglich, seine „eigene“ Landbevölkerung auf den ihm anvertrauten Gütern, u.a. auf dem Gut Kniephof und Schönhausen gegen die „Revolution“ zu mobilisieren. Es handelt sich also bei den Auseinandersetzungen dieser Zeit zum großen Teil um rückwärtsgewandte Unruhen, um den Versuch, gewesene, überlebte Strukturen zu reaktivieren, was sicher auch erklärt, warum die 48er Revolution auf die Dauer scheitert, da ihre bürgerlich- demokratische und liberale Basis zu schmal ist.
Wir begleiten Bismarck weiter auf seinem Lebensweg:
- 1849 wird B. in die zweite Kammer des Preußischen Landtages gewählt und profiliert sich, auch aus taktischen Erwägungen heraus, zum „Oberkonservativen“.
- 1851 wird Bismarck Gesandter im Deutschen Bundestag und fällt vor allem durch seine dezidiert anti-österreichische Haltung auf, die teilweise noch nicht mal mit Berlin abgestimmt ist. Er verhindert unter anderem, dass Österreich Mitglied im projektierten Deutschen Zollverein wird. Immer wieder weist B. auf die neue Rolle Preußens hin und auf die Bedeutung, die Preußen für Deutschland haben könnte. Mehr oder minder offen propagiert eine klein-deutsche Lösung, d.i. eine Lösung, in der es ein neues Deutsches Reich NUR unter Ausschluss Österreichs geben könne. Die Mittel, die B. dabei anwendet, sind vielfältig und durchaus unfair.
Dabei entfernte Bismarck sich anderseits zunehmend von den konservativen Förderern seine Karriere und entwirft für sich einen eigenen, oft genug pragmatisch-diplomatischen Politikkurs und –stil. Und es zeigt sich deutlich, dass er zwar dem Monarchischen Prinzip verpflichtet ist, aber nicht dem einzelnen König, und im Grunde seines Herzens auch nur dem preußischen Adel.
- 1862 wird Bismarck zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt. Gab es tatsächlich eine „englische Alternative“ zum deutschen Verfassungsentwurf? Wie sahen die Verhältnisse in England dieser Zeit und davor überhaupt aus? Es wird deutlich, dass der Begriff des Liberalismus in England in dieser Zeit völlig anders gemeint und gestaltet ist, als wir ihn heute benennen. Das preußische System war also keinesfalls so reaktionär, wie es in moderneren Darstellungen oft gezeichnet wird und dies Urteil gilt für Bismarck gleichermaßen.
- Später wird immer wieder behauptet, dass Bismarck die deutsche Einigung minutiös geplant hätte. Er sei ja schließlich selbstbewusst genug gewesen. Mag sein: aber er selbst hat die eigenen Ansprüche als Politiker viel bescheidener formuliert. Ich zitieren sinngemäß: „das Weltgeschehen gleicht einem Fluss: Kein Politiker könne diesem ein neues Bett graben. Es sei schon viel, wenn man als Flößer leidlich auf ihm manövrieren könne.“
- So weist Nonn auch darauf hin, dass die Gründung des Deutschen Reiches keine Planung Bismarcks sei, wohl aber eine Chancenverwertung innerhalb komplizierter inner- und außenpolitischer Prozesse. Bismarck sah sich als Makler an. Erst die Zeit nach 1871 und natürlich erst recht in den folgenden Jahren bringt die Legendenbildung des Reichsgründers hervor, von der sich Bismarck allerdings in seinen berühmten „Gedanken und Erinnerungen“ auch nicht distanziert.
- Es ist immer wieder behauptet worden, dass die Reichsgründung bereits 1871 als Bedrohung des europäischen Gleichgewichts bezeichnet worden ist. Nonn weist nach, dass außer dem englischen Oppositionspolitiker Disraeli kein Politiker von Rang solch ein Votum abgegeben hat. Die Anrainer-Staaten um Deutschland herum, vor allem Russland und Österreich, waren mit ganz anderen Problemen beschäftigt. Selbst England interessierte sich in dieser Zeit mehr für die Veränderungen auf der Krim.
Christoph Nonn hat ein vorzügliches Buch vorgelegt, mit einer nüchternen Sicht auf Person, Werk und Wirkung Bismarcks. Wie schön, dass dieser wissenschaftliche Text
ausgesprochen gut zu lesen ist. Er ist im Verlag C.H.Beck erschienen und kostet Euro 24,95 .
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