Julian Barnes - Der Lärm der Zeit

Julian Barnes - Der Lärm der Zeit

 

Im Mai 1937 steht der berühmte Komponist Dmtri Schostakowitsch jede Nacht in der Nähe des Fahrstuhls  in Moskau und versucht auf diese Art, seiner Familie den Anblick der von ihm befürchteten Festnahme zu ersparen. Schostakowitsch ist bei Stalin in Ungnade gefallen und rechnet daher fest mit einer Deportation oder der Erschießung.  Aber es kommt anders: der ihn verhörende Beamte verschwindet plötzlich spurlos. Schostakowitsch kann weiterleben, weiterkomponieren.

 

Julian Barnes erteilt dem Komponisten in seinem Buch selber das Wort: und dieser berichtet von seiner Jugend, der Erziehung durch die Mutter, dem gutmütigen Vater, der Zeit der ersten Liebe und den durchaus vielfältigen und komplizierten  Beziehungen zu Frauen allgemein. Und wir erfahren viel von seiner musikalischen Entwicklung, dem Wunderkind am Klavier, dem sich entfaltenden und sehr schnell sehr berühmt gewordenen Komponisten der Sowjetunion, der sich auf prominente Gönner verlassen kann.

 

Aber spätestens in den dreißiger Jahren leidet auch Schostakowitsch unter den zunehmend schwieriger werdenden politischen Umständen, die ihn und viele andere zum Sklaven eines Systems machen, das schon in dieser Zeit keine Gnade mit den eigenen Bürgern kennt. Der Terror als Mittel im Prozess der Säuberungen der Partei von sogenannten „Abweichlern“ wird sehr schnell zum Selbstzweck.

 

Schostakowitsch versucht trotzdem zu komponieren, Musik wie z.B. die Präludien für Klavier (Opus 87), sind  ein Beispiel für einen Musiker, der quasi „musikalisch auf Tauschstation geht“, um keine Angriffsflächen für das totalitäre System zu bieten. Um ihn herum verschwinden Menschen, die ihm viel bedeuten. Bei wenigen gelingt es ihm, überhaupt herauszufinden, was mit ihnen passiert ist.

 

Wie viele andere erliegt auch Schostakowitsch dem Irrtum, dass die Phase des Tauwetters unter Chrustschow ihm mehr Freiheit als Künstler ermöglichen würde. Aber die Partei zwingt den Zögernden zum Eintritt, sie zwingt ihn zur Unterschrift gegen neue Dissidenten und Abweichler, wie Solschenzyn und andere, sie nimmt ihm also die Würde,  und verwöhnt ihn auf der anderen Seite mit den Privilegien der Eliten dieses Systems.

 

Der „Lärm der Zeit“ ist ein beeindruckendes Porträt eines Komponisten und seiner Zeit. Es zeigt die Dialektik des Künstlers in der Diktatur, es zeigt den Menschen hinter dem Künstler, es wirbt um Aufmerksamkeit für die Musik des im Westen erst spät Entdeckten. Ein Zitat: „Kunst ist das Flüstern der Geschichte, das durch den Lärm der Zeit zu hören ist.“ Was für ein Satz, was für ein großartiges Buch! 

 

Der „Lärm der Zeit“ ist mit der EAN 978-3-462-048888-9 im Verlag Kiepenheuer und Witsch erschienen und kostet 20 Euro.

 

 

 

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0