Jaan Kross Wikmans Zöglinge
Ein Buch von hinten anfangen: Ist das bei diesem Buch wirklich notwendig? Ich denke ja, denn wer das kluge Nachwort von Cornelius Hasselblatt gelesen hat, hat eindeutig mehr von diesem episch-breiten und absolut spannenden 565-Seiten-Roman. Worum geht es? In den Dreißigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts, der Zeit also, in der Estland eine freie Republik war, besuchen zahlreiche Schüler das anerkannte Wikmansche Gymnasium in Tallinn. Beschrieben werden die Ereignisse aus dem Jahr 1938/1939 erst in der Klasse 10, später 11; ganz am Schluss gibt es einen Bruch in der Zeitstruktur, denn die letzten Seiten behandeln die Zeit um 1944.
Kross schreibt einen Schulroman, und so werden natürlich die Schüler in der ganzen Bandbreite ihres Verhaltens beschrieben: der sensible, hochintelligente Jaak Sirkel, die Hauptperson, mit stark autobiografischen Zügen; Riks Laasik, gewiss ebenso intelligent, aber eher introvertiert; Juss Pukspuu, der wegen eines recht üblen Streichs für ein Jahr der Schule verwiesen wird – wobei es eine Rückkehrmöglichkeit für ihn gibt, wenn er sich einer Prüfung unterzieht. Und dann gibt es noch Terrepson, das Mathematik-Ass, sowie Penn, den Klassenclown, Sohn eines Klavierfabrikanten und schon zur Schulzeit auf dem Weg zur Schauspielschule, und viele andere mehr.
Den Schülern stehen die Lehrer gegenüber. Zunächst der Direktor der Schule Wikman, den Idealen der französischen Revolution verpflichtet. Er nimmt Kinder auf, die gute Schüler sind, und ignoriert durchaus andere, deren Eltern in Tallinn oder Estland irgendeine Rolle spielen. Er erlässt manchem das Schulgeld; so ermöglicht er ihnen einen sozialen Aufstieg. Andererseits zwingt er sie, was Kleiderordnung und Haarschnitt betrifft, zu absolutem Gehorsam.
Tooder und Magister Saul, genannt „Konditor“, unterrichten Religion, Hellmann Physik. Dass er „Staubaffe“ genannt wird, verrät wohl einiges über seinen Unterrichtsstil. Fräulein Jakowlewa, Exilrussin, gibt Englisch, aber mit stark slawischem Akzent. Der neue Direktor Puhm, Nachfolger Wikmans, nennen die Schüler „Man gut“, denn er benutzt diesen Einwurf ständig. Allen gemeinsam ist der Versuch, sich mit schwarzer Pädagogik gegen die Schülerstreiche wehren.
Jaak Sirkel verliebt sich in Vivre Pukspuu, die Schwester seines Klassenkamaraden Juss. Das bringt ihn in einen Konflikt zu Riks Laasik, der sie ebenfalls verehrt. Aus Freunden werden Rivalen. Vivre und ihre Schwester Aino sind sich ihres Wertes bewusst, denn im Hause Pukspuu werden Mädchen zu selbstbewussten Frauen erzogen.
Überhaupt bilden die Schule und die Konflikte, die dort ausgetragen werden, ein exaktes Abbild der estnischen Gesellschaft dieser Zeit, die sich – durchaus im europäischen Kontext – von der agrarisch-adligen in eine industriell-bürgerliche entwickelt, mit all den Brüchen, die solch ein Vorgang mit sich bringt.
Einig ist sich diese Abiturklasse zum einen darin, dass es ein Abgangszeichen geben soll, das alle schmückt, zum anderen über eine Abschiedsfeier. Auf dieser beschließen die Schüler, sich in fünf Jahren erneut zu treffen. Jaak Sirkel wird mit der Organisation beauftragt. Gegen alle Widerstände gelingt ihm das. Aber die Zeiten haben sich geändert, von 37 Schüler treffen sich 13, der Rest ist durch den Krieg in alle Winde zerstreut. Und Jaak muss sich erneut um seine große Liebe bemühen, denn Virve ist spurlos verschwunden.
Dieses Buch hat die Ausführlichkeit eines Romans von Charles Dickens, die Genauigkeit eines Theodor Fontane und in Teilen die Unerbittlichkeit eines Alfred Döblin. Ich wünsche diesem in Estland zum Literaturkanon gehörenden Buch des Fast-Nobelpreisträgers Kross ganz, ganz viele Leser.
„Wikmans Zöglinge“ ist unter der EAN 9783955101299 im Verlag Osburg erschienen und kostet 24 Euro.
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