Dies ist die Geschichte von Ingwer Feddersen, der aus dem Dorf Brinkebüll stammt. Dörte Hansen erzählt, warum er das Dorf in den Sechzigerjahren verlassen musste und warum er in unseren Tagen auf Zeit dorthin zurückkehrt. Feddersen möchte seinen Großeltern helfen, die seit dem Zweiten Weltkrieg den dortigen Dorfkrug bewirtschaften. Seine Großmutter Ella rutscht allmählich in die Demenz, sein Großvater Sönke schafft es kaum noch, den Schankbetrieb aufrechtzuerhalten.
Was ist das für ein Dorf, „Brinkebüll“? Auf der Landkarte wird man es vergeblich suchen, und doch scheint dieser Geestflecken jedem Leser bekannt zu sein; die Dorfbewohner nicht weniger. Da gibt es den Dorfschullehrer Steensen, der die Schüler der kleinen Gemeinschaftsschule mit einer Mischung aus preußischer Strenge und heimatverbundener Informiertheit zu erziehen versucht. „Kein Plattdeutsch auf dem Schulhof!“ war eine seiner Devisen, die er notfalls auch körperlich durchsetzte. Großbauer Paul Bahnsen, dem alles gelingt, der Bürgermeister wird und generell immer die Nase vorn hat. Hanni Thomsen, der Dorfparia, der zu keinem Dorffest eingeladen wird, weil er nichts zu seinem Lebensunterhalt beitragen kann. Pastor Ahlers, der vergeblich versucht, das Christentum im Dorf zu verankern und trotzdem allen Dorfbewohnern immer wieder beisteht. Dora Koopmann, die einen kleinen Dorfladen führt und recht eigenwillige Vorstellung von Verkauf und Kundschaft pflegt. Hauke Godbersen schließlich, der mit seinen Lesemappen ein verachteter Kommunikationsmittelpunkt des Dorfes ist und daher keine Chance auf eine Frau hat.
Und die Familie Feddersen selbst: Ella und Sönke, die eine Ehe kurz vor Ausbruch des Kriegs schließen; Sönke, der als Spätheimkehrer durchaus Anpassungsschwierigkeiten ins Dorf mitbringt, über die er mit niemandem redet. Marret, deren Tochter durch wunderliche Verhaltensweisen auffällt, Ingwer, Marrets Sohn, der wohl von einem der drei Landvermesser gezeugt wurde, die im Rahmen der Flurbereinigung der Sechzigerjahre Brinkebüll umstrukturierten.
Überhaupt Ingwer: promovierter Vor- und Frühgeschichtler in Kiel, Mitglied einer fast schon zwanzigjährigen Wohngemeinschaft dort, die er mit zwei anderen führt und in der er gnadenlos ausgenutzt wird. An der Universität fühlt er sich seit geraumer Zeit als Fremdkörper, in der Wohngemeinschaft auch. Also versucht er sich mit einem einjährigen Sabbatical einen Freiraum zum Nachdenken zu schaffen. Diesen Freiraum nutzt er, um sich von Kiel abzusetzen und bei seinen Großeltern, die ihn aufgezogen haben, zu bedanken – womit sich der Kreis schließt.
Dieses Buch hat natürlich die Veränderungen zum Thema, die das Dorf ökonomisieren, verändern und modifizieren: weg von der Zeit des Kriegsendes über die der Flurbereinigung, mitten in unsere Tage, die bestimmt sind durch die mechanisierte Landwirtschaft und die Vermietung an Feriengäste.
Dörte Hansen ist ein kluges Buch gelungen. Wir erleben durchaus schmerzlich die Veränderungen, denen der „Homo ruralis“ überhaupt ausgesetzt ist. Wir teilen die Leiden und Freuden der Personen dieses Buches, selbst dann, wenn wir „nur“ Städter sind.
Dies Buch ist mit der EAN 9783328600039 im Penguin Verlag erschienen und kostet 22 Euro.
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