Hauke Friedrichs – Funkenflug
August 1939: Der Sommer, bevor der Krieg begann
Die Faktenlage ist allgemein bekannt: Am 1. September 1939 bricht der zweite Weltkrieg aus. Aber wie ist das Jahr 1939 in die Zeit des „Dritten Reiches“ einzuordnen, und wie kommt es genau zu den Kampfhandlungen, die 1945 im Mai mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands enden? Diesen Fragen widmet sich Hauke Friedrichs in seinem neuen Buch und legt dazu den August jenes Jahres quasi unter die Lupe.
Ein kluges Vorwort unterstützt seinen Ansatz: Wir erfahren von von den Spannungen zwischen Polen und Deutschen, von der Danziger Frage als deren Gradmesser. Wir werden an die letzten außenpolitischen Schachzüge Hitlers erinnert, die Okkupation von Österreich und die völkerrechtswidrige Angliederung von „Böhmen und Mähren“, an die dreiste Annexion des Sudetenlandes und des Memelgebietes. Hitler sollte mit diesen Zugeständnissen der Franzosen und Engländer „befriedet“ werden, aber geht diese Rechnung auf? Polen jedenfalls weigert sich, nun auch über Danzig und seinen Status zu verhandeln. Es kann sich darauf verlassen, dass England und Frankreich per Geheimvertrag für seine Sicherheit garantieren. Daraufhin befiehlt Hitler, Pläne zur Zerschlagung Polens militärisch auszuarbeiten.
Jedes Kapitel hat eine Überschrift, nämlich das genaue Datum und als Teaser die Schlagzeilen von zwei Zeitungen für diesen speziellen Tag. So wird deutlich, wie unterschiedlich die freie Presse der Welt titeln und beschreiben konnte und wie abhängig verlogen das deutsche Pendant gezwungenermaßen arbeiten musste. Die Texte der einzelnen Kapitel sind ganz unterschiedlich beschaffen. Es gibt Notizen von Zeitgenossen über diese Tage, Tagebucheintragungen, Biografien bzw. deren Teile, natürlich auch alle Formen der analysierenden Beschreibung. So entsteht eine große Montage, ein Panoptikum dieser Zeit.
Eines von vielen Beispielen ist die Geschichte der Familie des Schriftstellers Thomas Mann, die im August gerade Urlaub in den Niederlanden macht. Das Wetter ist schlecht, die Laune der Manns nicht minder. Kein Wunder: Sohn Golo versucht gerade, in der Schweiz eine Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Das funktioniert nicht so wie angenommen. Katia Mann ist besonders in Sorge, denn noch immer leben ihre Eltern, die Pringsheims, in München. Durch die Nürnberger Gesetze zu rechtlosen Menschen geworden, versuchen die Pringsheims, ins Exil zu entkommen. Ihr Vermögen ist beschlagnahmt, der Antrag auf Ausreise in die Schweiz wird wiederum schleppend behandelt. Einmal mehr fragt sich Thomas Mann auch in dieser Zeit, ob er sich noch offensiver in Opposition zum System der NSDASP in Deutschland stellen soll, gefährdet er dadurch doch seine Familie bzw. die seiner Frau.
Hitler verhandelt zum Erstaunen der Welt mit seinem erklärten Feind Nr. 1, der Sowjetunion, schließt mit ihr sogar einen Vertrag und ein wichtiges geheimes Zusatzprotokoll ab, um Polen zu isolieren. Der Hitler-Stalin-Pakt opfert einen großen Teil des Baltikums an die Sowjetunion, sogar Teile Polens. Weit ragt die Sowjetunion damit nach Europa hinein. Eine saturierte Sowjetunion – so Hitler – wäre damit in Zukunft keine Gefahr für Deutschland, sodass ein möglicher Zweifrontenkrieg ausgeschlossen wäre.
Aber wie ist die Stimmung in den anderen Ländern Europas? Wie bei den sogenannten Achsenmächten, also Italien und Deutschland , wie in Frankreich, England oder Polen? Überhaupt: Wie steht die Bevölkerung in Deutschland, in Europa zu einem potenziellen neuen Weltkrieg?
Der Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe Hermann Göring versucht, das Unheil eines Krieges abzuwenden, indem er über den schwedischen Industriellen Birger Dahlerus Kontakt nach London aufnimmt. Dieser versucht, in einer Art Pendelddiplomatie zwischen Berlin und dem englischen Kanzler Arthur Chamberlain und Außenminister Lord Halifax letzte Verhandlungen zum Problem Danzig zu ermöglichen. Für eine gewisse Zeit scheint sogar ein Einlenken Hitlers möglich. Aber die Polen, Engländer und Franzosen gehen auf dessen neue Vorschläge nicht ein. Zu frisch sind die Erinnerungen an den Fehlschlag der Münchner Konferenz.
Und manches Andere wäre da noch zu erwähnen. Wir geraten durch den klugen Text von Friedrichs auf vielen Ebenen mitten ins Geschehen dieser Zeit. Die Spannung dieses Jahres, dieser schmale Grat, der die Welt damals noch vom Abgrund des Weltkrieges trennte, ergreift den Leser und lässt ihn bis zur letzten Zeile nicht los. Ein gutes Nachwort stellt dieses Buch wieder in den Kontext der Zeit. Ein Muss für alle, die an der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts interessiert sind.
„Funkenflug“, erschienen im Aufbau Verlag, ist unter der EAN 9783351034870 zum Preis von 24 Euro erhältlich.
Kommentar schreiben