Uwe Timm - Rot

2001 erschien dies Buch von Uwe Timm und jetzt, nach der dritten Lektüre im Juni 2020, traue ich mich es endlich vorzustellen. Das Thema erscheint fast banal: Thomas Linde, Beerdigungsredner und ehemaliger Achtundsechziger, verliebt sich in die zwanzig Jahre jüngere Lichtdesignerin Iris. Und diese Liebe wird erwidert. Kann das gutgehen? Wie verträgt sich dieser enorme Alters- und damit Erfahrungsabstand mit einer Liebesbeziehung? Ganz grundsätzlich: Was ist das für ein Werk, das Timm uns zur Jahrtausendwende präsentierte und das mir seit der ersten Lektüre im Jahr 2003 gar nicht mehr aus dem Kopf geht?

 

Sehr schnell zieht uns der innere Monolog des Erzählers in seinen Bann. Linde liegt nach einem Verkehrsunfall in Berlin schwer verletzt auf der Straße, und die letzten Jahre und Jahrzehnte sind ihm eigentümlich präsent. Wir erleben seine Kindheit mit, den Gegensatz zu seinem verhassten Vater, der sich als Architekt einen Namen gemacht hat, die Schul-, aber vor allem die Studienzeit, die ihn im Zentrum der linken Bewegung sieht, für die er sich engagiert. Es gelingt ihm sogar, für ein paar Tage im Paris des Jahres 1968 Fuß zu fassen. Linde „inhaliert“ die linke Literatur der Zeit, beschäftigt sich intensiv mit den philosophisch-revolutionären Aussagen dieser Tage und versucht, diese auf allen Ebenen in die politische Arbeit der Zeit einzubringen.

 

Lehrer kann und will er nicht werden. Nach dem Studium arbeitet er für einen Gewerkschaftsboss, schreibt ihm die Reden, muss aber in einer politisch ungünstigen Situation ohne eigene Schuld zurücktreten. Eher durch Zufall gerät er in die Beerdigungsbranche, in der er jahrelang als freier Bestattungsredner arbeitet. So bestimmen Beerdigungen, besser die Vorbereitung auf die Reden, die er dort hält, seinen Wochenrhythmus. Neben seinem Beruf schreibt Linde an einem großen Essay über die Farbe Rot, spielt als Laie in einer Jazzformation und verfasst entsprechende Kritiken.

 

Linde hat als junger Erwachsener Vera geheiratet, aber die Ehe der beiden zerbricht in der Routine des Alltags; die zumeist sexuell geprägten Abenteuer danach bleiben kurzfristige Episoden. Die Begegnung mit Iris, die Annäherung der beiden, Iris starker Lebens- und Genusswille, seine Revitalisierung durch diese junge Frau stehen im Zentrum dieses Buches. Schon nach relativ kurzer Zeit will Iris ihn ganz für sich haben, obwohl sie mit Ben, einem erfolgreichen Controller, verheiratet ist. Aber was will Linde? Es macht alles für ihn nicht einfacher, dass Iris ihm gesteht, sie sei vermutlich schwanger.

 

Linde erhält zu allem Überfluss einen Rede-Auftrag, der ihn mitten in seine Vergangenheit zurückführt, denn sein ehemaliger Weg- und Kampfgefährte Aschenberger ist am Magenkrebs gestorben, und sein Sohn – ein Arzt, der nicht in Berlin wohnt – hat ihn testamentarisch zum Redner bei der Trauerfeier bestimmt. Aschenberger hatte in Berlin als Touristenführer gearbeitet und alternative Rundgänge angeboten. Kurz bevor Linde sich mit dem Sohn Aschenbergers in dessen Wohnung trifft, die gerade aufgelöst wird, findet Linde Sprengstoff und Aufzeichnungen des Toten vor. Dieser hatte vorgehabt, die Siegessäule in Berlin, das berühmte Nationaldenkmal, das an den Triumph des preußischen Staats in vielen Schlachten des 19. Jahrhunderts erinnern sollte, in die Luft zu sprengen. Für Aschenberger, einen asketisch verbitterten Alt-Linken war solch ein Anschlag akzeptabel, da er sich nicht gegen Menschen, sondern gegen ein verhasstes reaktionäres Symbol richten sollte. Aber was soll Linde nun mit dem Sprengstoff machen? Der Polizei will er ihn nicht geben. Als er Iris davon berichtet, ist sie entsetzt und rät ihm, das Päckchen im Wannsee untergehen zu lassen.

 

Aber Linde berichtet auch über viele andere Stränge aus seinem Leben, er mäandert in seinem inneren Monolog kreuz und quer durch seine Vergangenheit; seine Vita taucht wie in einem Prisma gebrochen auf ganz unterschiedlichen Erzählebenen, zum Teil auch verfremdet, wieder auf. Lesende werden auf eine ganz direkte Art angesprochen, und die Erzählstruktur selbst nähert sich immer mehr der Stream-of-Consciousness-Technik an.

 

Mit unglaublicher Kunstfertigkeit bietet uns Uwe Timm dieses Konstrukt aus Geschichte, Biografie, Autobiografie, Sinn- und Sinnsuche der Achtundsechziger bis zur Jahrhundertwende nicht allein für Berlin an. Revolution und Resignation geben sich die Hand: Wie in einer griechischen Tragödie bewegen sich die Personen in diesem Rahmen. Es ist kaum möglich, diesen Text ungerührt zur Seite zu legen. Dies ist ein Meisterwerk – eloquent, elegant, zielsicher und gnadenlos.

 

Wer also etwas über diese Zeit wissen möchte, kommt an Timms Buch gar nicht vorbei. Es ist gebunden lieferbar unter der ISBN 978-3-462-03023-5 zum Preis von 22,90 Euro, aber es gibt auch eine im Format kleinere, günstigere Sonderausgabe mit der ISBN 978-3-462-03464-6 zum Preis von 15,00 Euro.

 

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