Andreas Kossert - Kalte Heimat

 

Andreas Kossert – Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945

 

Ende 1989 erhielt ich über meine Schwester einen ganzen Packen an Fotokopien: die Erinnerungen meiner Tante an ihre Lebenszeit zwischen 1926 und 1946. Geboren in Altkloster, zogen sie mit ihrer Familie 1929 nach Bromberg; beide Städte liegen in der ehemaligen preußischen Provinz Posen, heute Republik Polen. Der Schwerpunkt des Erzählten bezieht sich auf der Zeit von 1936 bis 1946. Die Widmung „Erinnerungen an Daheim, aufgeschrieben für meine Kinder, damit es nicht vergessen wird“ erklärt, warum sie alles aufschrieb. Damals wurde uns das Versprechen abgenommen, über die Einzelheiten dieses kopierten Büchleins nach außen hin zu schweigen. Die Informationen sollten innerhalb der Familie bleiben.

 

Vieles, was ich dort gelesen habe, hat mich sehr umgetrieben. Es waren – gerade zwischen 1939 und 1946 – schlimme Zeiten für Polen und Deutsche. Um das Gelesene besser einordnen zu können und auch ganz allgemein mehr zu erfahren, habe ich Andreas Kosserts Buch gelesen, ein 2008 erschienener, nach wie vor eminent wichtiger Lesestoff. Kossert wendet sich nicht nur an Menschen, die selbst Vertriebene in ihrer Familie haben, sondern an alle, die sich ernsthaft für Geschichte interessieren.

 

Nach einer aufrüttelnden Einleitung, die fast alle Themen des Buches skizziert, kommen harte Fakten. Der vom nationalsozialistischen Deutschland entfesselte Zweite Weltkrieg kostete über 60 Millionen Menschen das Leben, darunter 25 Millionen Sowjetbürger. 6 Millionen Juden wurden aufgrund einer rücksichtslosen Germanisierungspolitik durch industriellen Massenmord in den deutschen Vernichtungslagern und durch die Polizeibataillone von SS und SD in Osteuropa umgebracht.

 

„Diese Politik der Gewalt kehrte sich schließlich gegen die Deutschen selbst“, schreibt Kossert, denn 14 Millionen Menschen wurden nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Deutsche aus den verschiedensten Teilen Europas vertrieben, wobei auf der Flucht mindestens 2 Millionen Menschen starben. Diese Vertriebenen stammten aus den deutschen Ostgebieten, also Ost- und Westpreußen, Schlesien und Pommern; außerdem aus den baltischen Staaten, Polen und der Tschechoslowakei, Ungarn und Rumänien, Jugoslawien und der Sowjetunion. Diese Vertreibungen standen zu einem großen Teil in eindeutigem Widerspruch zu den Vereinbarungen der Potsdamer Konferenz vom Juli 1945, die einen geordneten und vor allem humanen Transfer der Deutschen in andere Wohngebiete vorsah.

 

Die schlimmen Erlebnisse der Vertriebenen setzten sich in Deutschland selbst in allen vier Zonen fort. Anstatt den vielfach traumatisierten Ankömmlingen entgegenzukommen und den nach dem Krieg instand gebliebenen Wohnraum gerecht zu verteilen, kam es zu einer kaum verständlichen Hartleibigkeit diesen Menschen gegenüber. Man war allgemein nicht bereit, Hilfe zu leisten. In völliger Verkennung der Tatsachen wurden die aus den deutschen Ostgebieten Geflohenen vor allem in den westlichen Zonen als „Polacken“ beschimpft. Es gab sogar Demonstrationen gegen die Neuaufnahme von Vertriebenen. In der SBZ (Sowjetische Besatzungszone) hingegen, der späteren DDR, durften sich die Geflüchteten nur „Umsiedler“ nennen. Zusätzlich zu den auf der Flucht erfahrenen Verletzungen stießen sie also auf eine Grundhaltung, die weder Mitgefühl noch Verständnis kannte.

 

Dennoch nahmen die aus ganz unterschiedlichen Gebieten und Gesellschaftsschichten stammenden Neuankömmlinge ihre Chancen wahr und brachten sich auf unterschiedlichen Ebenen ins gesellschaftliche Leben der deutschen Staaten ein. Und sie bereicherten die neue Heimat: mit Kochrezepten ebenso wie durch eine ganz andersgeartete Frömmigkeit, die die Kirche dort, wo sie sich engagierten, nachdrücklich beeinflusste.

 

Schwierig blieb die Einbindung der Vertriebenen in die Politik. Im Westen entstanden zwar Verbände und Vereine, und viele engagierten sich in den etablierten Parteien. Doch spätestens seit der Ratifizierung der Ostverträge in den Siebziger- und Achtzigerjahren und einer daraufhin zunehmend verbitterten Rückwärtsgewandtheit eines Teils ihrer Verbände verloren sie zunehmend an politischen Einfluss.

 

In der SBZ und für Teile der Linken galten diese Verbände ohnehin als revanchistisch oder revisionistisch. Das Leid der Vertriebenen hatte einfach hinter der Politik des Ausgleichs im Rahmen der Ostverträge zurückzustehen. Was eine solche Einstellung den solchermaßen doppelt Entwurzelten zufügte, interessierte nicht. Sogar die kritischen Anmerkungen gänzlich unverdächtiger Intellektueller wie Günter Grass oder Ralph Giordano zum Thema „Heimatverlust im Osten“ konnte daran nichts ändern.

 

Der Bericht meiner Tante endet im Juli 1947 in Berchtesgaden. Er ist einfach geschrieben und geht doch unter die Haut. Ich konnte diesen Text und sie selbst nun deutlich besser verstehen, weil mir Andreas Kosserts ausgesprochen gut zu lesendes Sachbuch dabei geholfen hat, die Hintergründe einer der wichtigsten und wohl auch schmerzlichsten Epochen deutscher Geschichte deutlicher zu betrachten.

 

Andreas Kosserts „Kalte Heimat“ ist unter der ISBN 978-3-570-55101-1 im Verlag Pantheon als Taschenbuch erschienen und kostet 16 Euro.

 

 

 

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0