Wie macht man das? Einen Roman über den wohl schwierigsten Abschnitt österreichischer Geschichte, also der Zeit der Dreißiger- und Vierzigerjahre des vorigen Jahrhunderts zu schreiben, fast beiläufig und trotzdem präzise? Figuren zu erfinden, die Leserinnen und Leser über 250 Seiten gerne begleiten, selbst wenn sie sperrig oder schwer verständlich sind? Wie erzählt man über die Männerfreundschaft zwischen einem jungen Mann aus der Provinz und dem damals schon berühmten Sigmund Freud in Wien? Und was um alles in der Welt sind ein Trafik und ein Trafikant?
Überzeugende Antworten auf diese Fragen finden sich in Robert Seethalers Buch „Der Trafikant“. Der 17 Jahre junge Franz Huchel verlässt sein Heimatdorf Nussdorf am Attersee. Seine Mutter schickt ihn nach Wien in die Lehre zu Otto Trsnjek, einem Invaliden, der im Ersten Weltkrieg ein Bein verloren hat. Trsnjek ist Trafikant, hat also einen Kiosk, aus dem heraus er neben Zeitungen und Zeitschriften auch Tabakwaren aller Art verkauft. Er hat sich auf Zigarren spezialisiert.
Franz zieht in den Trafik ein, gewöhnt sich an Wien und versucht, die Anweisungen seiner Ausbilders zu befolgen: „Merk Dir die Kunden. Präg Dir ihre Gewohnheiten und Vorlieben ein. Das Gedächtnis ist das Kapital des Trafikaten.“ Beim Bedienen lernt er den berühmten „Deppendoktor“ Sigmund Freud kennen, der ein Zigarrenliebhaber ist. Sehr schnell entsteht ein besonderes Verhältnis zwischen den beiden. Denn Franz, der sich in die geheimnisvolle Anezka verliebt hat, versucht, den Professor als Fachmann nach den Frauen und der Liebe zu befragen, die ihn so umtreibt. Aber kann der Professor ihm wirklich helfen?
Das Wien dieser Zeit wird bestimmt durch die politischen Auseinandersetzungen auf der Straße. Noch regiert der austrofaschistische Kanzler Kurt Schuschnigg und versucht, die Machtergreifung Hitlers in Österreich zu verhindern. Aber bereits vor der Machtergreifung Hitlers kommt es immer wieder zu antisemitischen Übergriffen. So wird der Trafik eines Tages vom benachbarten Fleischermeister Roßhuber beschmiert, einem Antisemiten und Parteigänger Hitlers. Aber Trsnjek stellt Roßhuber und wehrt sich.
Nachdem Franz lange Zeit nach Anezka gesucht hat, sie dann im Trafik auftaucht und mit ihm schläft, beginnt Franz einmal mehr, von einer dauerhaften Beziehung zu träumen. Aber Anezka hat andere Pläne: Sie arbeitet in einem Varieté und führt dort eine erotische Tanznummer vor, die Franz zutiefst empört und eifersüchtig macht.
Den Rat, den Franz sich in einem neuerlichen Gespräch mit Freud erhofft, erhält er nicht. Im Gegenteil: Die politischen Verhältnisse zwingen Freud zur Emigration nach London. Ein letztes Mal sehen sich die Freunde in Freuds Wohnung. Und jetzt begreift auch Franz, was die politischen Veränderungen in Wien für alle bedeuten. Es beginnt damit, dass der Trafikant erneut beschimpft und der Trafik beschädigt wird. Ein letztes Mal wehrt sich Trsnjek; dann wird er von der Gestapo abgeholt.
Ich möchte dieses Buch nicht auserzählen. Dazu ist es in all seiner Vielschichtigkeit und seiner Darstellungsmacht, vor allem in seiner poetischen Sprache, die an keiner Stelle verkleistert, einfach zu bedeutsam, wohl auch zu schön. Folgen Sie also den Lebenswegen des roten Otto, des Franz Huchel, der Anezka und der Wiener Bevölkerung auf dem Weg in dieser Zeit. Sie werden mit einem Text belohnt, der seinesgleichen sucht.
Wie schön, dass es dieses kleine Büchlein in zwei unterschiedlichen Ausgaben gibt. So kann man es verschenken, sooft es geht: an alle, die es noch nicht besitzen! „Der Trafikant“ ist unter der EAN 9783036956459 erschienen, kostet gebunden 22 Euro, die Taschenbuchausgabe mit der EAN 9783036959092 liegt bei 13 Euro.
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