Carlos Maria Dominguez - Das Papierhaus

 

Es passiert nicht häufig, dass ich eine 99 Seiten kurze Erzählung als potenzielle Weltliteratur einstufe. Diese kleine Preziose hat es allerdings wirklich in sich und wirkte auch nach einer erneuten Lektüre bei mir lange nach. Aber worum geht es denn überhaupt? Bluma Lennon, Literaturprofessorin in Cambridge, überquert eine Straße, wird – vertieft in die Lektüre eines Gedichtbandes von Emily Dickinson – von einem Auto erfasst und stirbt. Ihr namentlich nie genannter Kollege, der sie nach ihrem Tod im Institut für Hispanische Literatur vertreten muss, kennt seine Kollegin recht genau; Bluma war seine Geliebte. Er tritt von nun an als Erzähler in Erscheinung.

 

Bei den Aufräumarbeiten in Lennons Büro fällt diesem Mann eine Paketsendung auf, die an sie gerichtet ist. Das Kuvert ist mit uruguayischen Briefmarken beklebt und die Sendung enthält ein zerlesenes Exemplar der „Schattenlinie“ von Joseph Conrad. An Buchdeckel und Rücken klebt eine schmuddelige Kruste, die wie Zement aussieht.

 

Die Widmung in diesem Buch stammt von Lennon persönlich und ist an einen Carlos gerichtet, mit dem sie offensichtlich 1996 auf einem Kongress in Monterrey (Mexiko) war. Der Erzähler, der selber argentinische Wurzeln hat, steht vor vielen Fragen: Wer ist Carlos? Was geschah1996 in Monterrey? Warum kommt das gewidmete Buch verschmutzt an die mittlerweile verstorbene Autorin zurück?

 

In seinen Sommer-Semesterferien macht sich der Erzähler auf die Spur und fährt in seine Heimat nach Argentinien. Er nimmt sich vor, noch mehr über Carlos herauszufinden und ihn über den Tod Lennons zu informieren. Von Buenos Aires aus fährt er nach Montevideo und trifft dort Jorge Dinarli, den Besitzer des landesweit größten Antiquariats. Auch er hatte am fraglichen Kongress in Monterrey teilgenommen. Dinarli informiert ihn über die Buch- und Lebensgewohnheiten von Carlos Brauer, verweist aber auf einen engen Freund, nämlich Delgado. Und im Gespräch zwischen dem Erzähler und Delgado am Tag darauf wird manches deutlich, was die Person Brauers ausmacht. Aber in welcher Beziehung stand er zu Lennon?

 

Neben der Handlung, die durchaus Krimizüge trägt, geht es in diesem schmalen Büchlein immer wieder um Bücher, um Literatur, um das Lesen, die Lust des Lesers, die eigentlich nie eine abschließende Befriedigung findet, um manische Leser, um Sammler und ihre Probleme, ein Objekt der Begierde (irgendwie) unterzubringen, um Händler und Antiquare, um die Dialektik zwischen Leben, Liebe und Lesen, sicherlich auch um den Literaturbetrieb. Dieser wunderbaren Mischung kann man sich kaum entziehen, also mag man dem Autor auch verzeihen, dass er mit dem „Papierhaus“ eine traurige Liebesgeschichte erzählt, die eigentlich gar nicht novembertauglich ist.

 

Carlos María Domínguez, Das Papierhaus, gibt es nur noch als Taschenbuch im Inselverlag mit der EAN 9783458363798 für 8 Euro. Elisabeth Müller hat den Text übersetzt, Jörg Hülsmann hat diese Ausgabe kongenial illustriert.

 

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