Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg begegnet die Mutter der Autorin, Grete Moosgruber, die als Schwester in einem Lazarett in Österreich arbeitet, einem geheimnisvollen Patienten, dem man wegen der Erfrierungen im Russlandfeldzug einen Unterschenkel amputieren musste. Sie verliebt sich in ihn und macht dem 24-Jährigen sogar ein Heiratsangebot. Ohne sich abzumelden fliehen beide aus dem Lazarett, und wenig später übernimmt Josef Helfer als Verwalter ein Heim für Kriegsversehrte, das auf der Tschengla liegt, einem Hochplateau auf 1250 m Höhe im Brandnertal in Vorarlberg/Österreich. 1947 wird Monika Helfer als zweites Kind geboren.
Der Roman „Vati“ ist der Versuch der Autorin, zehn Jahre nach dem Tod ihres Vaters durch die Befragung seiner dritten Frau und vieler Verwandter herauszufinden, was er eigentlich für ein Mensch war. Denn das Verhältnis, das sie als erwachsene Frau zu ihm hat, ist durchaus schwierig. Außerdem misstraut sie den eigenen Erinnerungen.
Und sie findet einiges heraus: über die Herkunft des Vaters, der als unehelicher Sohn eines Bauern geboren und trotzdem eine erstaunlich gute Bildung genossen hat. Über die Zeit der Liebe ihrer Eltern, die so ganz anders ist als das, was Monika selbst in ihrem Leben vorfindet. Über die manische Leidenschaft des Vaters zu Büchern, die sich im Aufbau einer von keinem Patienten genutzten Bibliothek im Heim für Kriegsversehrte zeigt, und im Versuch, diese seine Welt zu verteidigen bzw. für sich zu retten. Als Josef – bei der Umstrukturierung des Heimes in den Sechzigerjahren – fälschlich meint, man wolle ihm den Posten als Verwalter wegen eben dieser Bibliothek nehmen, versucht er sich mit Gift das Leben zu nehmen, was aber misslingt.
Da die Mutter wenig später krebskrank wird, fällt auch sie als Erziehende aus; die Kinder werden auf die Verwandten von Grete verteilt. Wie die Familie sich da verhält, wie Grete und ihre Geschwister diese Situation meistern müssen und sich – einmal mehr – anpassen, hat mir klargemacht, wie fremd uns heute diese Art, mit Kindern umzugehen, geworden ist. Und der nunmehr arbeitslose Josef bekommt aus Barmherzigkeit einen Raum im Kloster und empfängt dort seine Kinder. Eine groteske Situation.
Aber die Geschichte ist da noch nicht zu Ende: Auf Vermittlung eines Verwandten heiratet Josef noch einmal. Diesmal ist es Ottilie, eine Schneidermeisterin aus Genf, die dem Wittwer neben den vier eigenen Kindern auch noch zwei neue schenkt. Josef macht sogar noch Karriere.
Dieses Büchlein zu lesen lohnt sich! Nicht nur wegen der vielen Familienepisoden, die alles sind, nur nicht langweilig. Und natürlich wegen der genauen Schilderung der Nachkriegs- und Wiederaufbauzeit, die die gewohnten Rollenzuordnungen erschüttert. Außerdem lernen Sie eine Autorin kennen, die sich im Erzählen in Frage stellt und begrenzt und damit eindrucksvoll zeigt, wie schwierig es ist, eine Person aus der unmittelbaren Nähe zu beschreiben. Diese Autorin zollt auch den anderen in der Familie Respekt, auch wenn uns ihr Handeln heute mehr als fremd erscheint.
Dies Buch ist im Hanser Verlag zum Preis von 20 Euro erhältlich und trägt die ISBN 978-3-446-26917-0.
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