Normann Davies – Verschwundene Reiche

 

Viel zu lange hab ich gewartet, bevor ich mich an dieses Buch gewagt habe: Über 900 Seiten binden die Lesekraft doch über eine lange Zeit. Aber dann hat mich schon die Einleitung in den Bann geschlagen. Davies arbeitet deutlich heraus, worin der Unterschied zwischen Gegenwart und Vergangenheit besteht und möchte die „Funktionsweise des historischen Gedächtnisses“ beschreiben. Deshalb gliedert er jede einzelne Fallstudie in drei Teile: Teil eins stellt eine Region in Europa vor, so wie sie sich uns heute darbietet, Teil zwei erzählt die Geschichte eines „vanished Kingdom“, das in dieser Region angesiedelt war, und Teil drei berichtet, ob und wie sehr die Geschichte dieses „verschwundenen Reiches“ in Erinnerung geblieben ist oder vergessen wurde.

 

Und so beginnt eine hochinteressante Reise durch die Geschichte Europas und dessen Regionen, die sich nachhaltig einprägt, weil kaum ein wissenschaftlicher Autor so gut erzählen kann wie Davies. Er beginnt mit dem tolosanischen Reich zur Zeit der Völkerwanderung, dem Königreich von Alt Clud im frühmittelalterlichen Schottland, den sieben Königreichen in Burgund und dem Mittelmeerreich Aragón.

 

Ein weiteres Kapitel stellt das Historische Litauen vor, das auf Engste mit der Geschichte Polens verbunden ist. In Borussia erfahren wir eine Menge über das Land der Prußen und über die wechselvolle preußische Geschichte. Savoyen ist untrennbar mit der italienischen und französischen Geschichte verbunden.

 

Galizien, das „Königreich der Nackten und der Toten“, ist mir besonders aufgefallen, denn die Namen von Städten und Ortschaften waren mir aus der Literatur durchaus bekannt. Davies füllt sie jetzt mit Inhalt; das geht zum Teil sehr unter die Haut. Das gilt ganz sicher auch für Etrurien, dem kurzzeitig bonapartischen Fremdelement in der Toskana.

 

Rosenau verdeutlicht die letzten 100 Jahre des englischen Königshauses auf überraschende Weise. Wem ist bewusst, dass die Windsors eigentlich aus Deutschland stammen? Montenegro zeigt uns, wie ein Land vom mächtigen Nachbarn, in diesem Fall Serbien, einfach geschluckt wird. Aufgrund der Zeitläufte hat das trotz des sich gerade in Genf herausbildenden Völkerrechts damals eigentlich niemanden interessiert.

 

Die Kapitel Éire, der „haltlose Rückzug der Krone“, und die UdSSR, „Ein Staat verschwindet – endgültig“, haben am meisten Bezug zu unserer Gegenwart. Davies nimmt kein Blatt vor den Mund und benennt die Fehler der englischen Politik Irland gegenüber, aber schildert eben auch die menschenverachtende Antwort der IRA auf diese Politik. Ob sich Großbritannien überhaupt als Verbund wird erhalten lassen, ganz egal wie sich englische Politik insgesamt formuliert?

 

Im letzten und für mich am beeindruckendsten Kapitel beschreibt Davies die Geschichte der UdSSR, und zwar hauptsächlich am Beispiel der sowjetischen Politik Estland gegenüber. Wer verstehen will, warum die baltischen Staaten und viele andere ehemalige Sowjetrepubliken samt deren Anrainer so schlecht auf Putin und die GUS zu sprechen sind, sollte sich dieses Kapitel nicht entgehen lassen.

 

Wie Staaten sterben: Ein gelungenes Resümee beendet dieses Buch und gibt so eine systematische Antwort auf die Fragen, die die Geschichte uns zu diesem Thema vorlegt. Ein brillantes Buch, ein Juwel der Geschichtsschreibung überhaupt!

 

Der Titel ist unter der EAN 978 3 8062 3116 8 im Konrad Theiss Verlag erschienen. Der Preis ist abenteuerlich niedrig: Für 926 Seiten sind Euro 25 fällig. Und dieses Geld ist gut angelegt!

 

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