Maarten ‘t Hart – Der Nachtstimmer
Orgelstimmer brauchen keine Ausbildung, dafür aber das absolute Gehör und Ruhe beim Arbeiten. Wissen Sie, in welchem Tonabstand man einzelne Register der Orgel stimmt oder eine Pfeife verbiegt, damit sie wieder gut klingt? Wie die Arbeitsbedingungen in diesem Milieu sind und warum man oft nur nachts seinem Beruf nachgehen kann? Dies und vieles andere mehr über die wunderbare Orgellandschaft Südhollands erfahren wir in dem neuen Roman vom Autor des „Wüten(s) der ganzen Welt“.
Der Titelheld und Erzähler ist Orgelstimmer und wird von seiner Firma in eine kleine Stadt in Südholland geschickt, mutmaßlich Maassluis, um dort die altehrwürdige Garrels-Orgel in der „Groote Kerk“ zu justieren. Aber bereits die Anreise und die Unterbringung sind schwierig: Die Menschen vor Ort sind Fremden gegenüber argwöhnisch und leben in einer ganz eigenen Welt. Im ehemaligen „Seemannsheim“, in dem er untergebracht ist, lernt der Erzähler eine Gruppe von Bibelkundigen kennen, die „Vereinigung Schrift und Bekenntnis“, die ihm sogleich einen zweiten Auftrag andient. Auch die Orgel in der Immanuelkirche, 1954 erbaut, soll neu gestimmt werden.
Der Erzähler ist – wie Maarten ‘t Hart selbst – ein durchaus kritischer Begleiter der Christen vor Ort. Viele der Anekdoten in diesem Buch sind ohne profunde Bibelkenntnisse nicht denkbar; unser Erzähler ist „bibelfest“. Dabei wird deutlich, wie zwiespältig er das „Buch der Bücher“ und den Glauben beurteilt. Als nahezu agnostischer Christ bemerkt er in vielen Erzählungen des Alten und Neuen Testaments die Unlogik der Texte. Aber über die Musik, die eben Passagen der Bibel vertont und interpretiert, fühlt er sich dem Glauben (oder der glaubenden Erinnerung?) andererseits eng verbunden.
Zu all den Schwierigkeiten, die die auch körperliche anspruchsvolle Arbeit mit sich bringt, kommen persönliche hinzu, denn die Hilfe, die ihm der Organist der Groote Kerk anbietet, ist das merkwürdige Mädchen Lanna, schweigsam und autistisch wirkend. Noch eigenwilliger aber ist deren Mutter, eine aus Brasilien stammende Schönheit. Gracinha beherrscht – obwohl sie schon über zwanzig Jahre in den Niederlanden lebt – die Landessprache recht unvollkommen und flucht auf Portugiesisch. Die Klatschgeschichten, die über sie im Umlauf sind, klingen zum Teil unglaubwürdig. Lanna hingegegen ist musikalisch betrachtet ein Wunderkind, auch mit einer wunderschönen Stimme begabt. Sie hilft bei der Arbeit in der Kirche, getragen von einer unglaublichen Musikalität.
Eines Tages gibt es nach dem Orgelstimmen eine Essens-Einladung zu Gracinha, und der Erzähler verguckt sich in die Exotin. Die Kunde von der Einladung und dem Essen zu dritt verbreitet sich blitzschnell im Ort. Und von nun an droht man dem Erzähler. Er fragt sich: Gibt es am Ort einen Rivalen? Jemand, der sogar bereit ist, ihn ins Hafenbecken zu stoßen? Wie steht es mit den verschiedenen Menschen hier, denen der Erzähler begegnet? Einige wirken skurril, weltfremd und unfreundlich. Aber kann man ihnen auch einen Mord(versuch) zutrauen?
Lanna und ihre Mutter haben Wünsche für die Zukunft, die sie beim Essen formulieren. Sind sie ernst zu nehmen? Und während der Erzähler über seine verstorbene Frau Lone nachdenkt und über eine mögliche neue Liebesbeziehung sinniert, mischt sich bei einem Telefonat mit seinem Bruder, den er über Lanna befragt, dieser sich erneut in sein Leben ein.
Maarten ‘t Hart hat einmal mehr die klassische Musik in den Mittelpunkt seines Romans gerückt. Und die Religion nicht minder. Sein Blick auf die eigenen Landsleute fällt nicht nur freundlich aus. Dass er trotzdem ein Herz für all die sonderbaren religiösen Gruppierungen dort hat, erkennt man unschwer bei der Lektüre. Für alle, die seine Art zu schreiben mögen, ist dies Buch ein Muss; für alle, die eine wunderbare Liebesgeschichte mit melancholischen und skurrilen Akzenten schätzen, ein wunderbares Kann.
Der „Nachtstimmer“ ist unter der EAN 978-3-492-07043-0 gebunden für € 24 lieferbar. Für mich ist dies Buch ein außergewöhnliches Meisterwerk!
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