Julia Franck - Lagerfeuer

Was kann oder soll Literatur eigentlich? Aufrütteln durch Beschreiben, erfreuen durch Erkenntnis? Spielerisch unsere Welt in Frage stellen, unsere Vertrautheiten erschüttern? „Lagerfeuer“ von Julia Franck, 2003 zuerst im Dumont Verlag erschienen, antwortet auf einige dieser Fragen, ist ein schwergewichtiges Buch: eines, das lange nachklingt.

 

Worum geht es? Ende der Siebzigerjahre verlässt Nelly Senff die DDR Richtung Westberlin. Nach einer erniedrigenden Ausreise landet sie wie viele andere auch im Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde. Wie andere meint auch sie, jetzt im „goldenen Westen“ in Sicherheit zu sein, also mit ihren beiden Kindern einen Neuanfang in Freiheit beginnen zu dürfen.

 

Aber diese Hoffnung erweist sich als trügerisch. Denn sie bewohnt jetzt eine kleine Welt, die ihre eigenen Gesetze hat. Auf engstem Raum leben hier Menschen aus verschiedenen Ländern, aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten zusammen. Allen ist allein der Verlust der Heimat gemein.

 

Nelly Senff hat die DDR aus persönlichen Gründen verlassen, auch deshalb, weil sich ihr Partner umgebracht hat. Krystyna Jablonowska hat Vater und Bruder aus Polen mitgebracht, weil sie sich im Westen eine bessere Versorgung des dementen Vaters und des schwer krebskranken Bruders erhofft. Hans Pischke ist am System DDR zerbrochen, an den fordernden Erwartungen, die dort an ihn gestellt wurden – auch von der Staatssicherheit. Hier mogelt er sich durch den Lageralltag, von der Proviantausgabe bis zur Arbeitsvermittlung.

 

Aber nicht nur die Lagerinsassen und ihr Alltag, sondern auch die Kontrolleure der Aus- bzw. Einreise werden uns vorgestellt. Und anderem John Bird, ein Agent des CIA, der die gerade erst im Lager angekommenen Menschen befragt und versucht, deren Ausreisemotive zu prüfen und mögliche Stasimitarbeiter zu enttarnen. Während seine eigene Ehe am Ende ist, versucht er auf seine Weise, Nelly Senff auszuspionieren.

 

Überhaupt: Die Gesellschaft draußen, der die Lagerinsassen so gerne angehören wollen, nimmt kaum Notiz von ihnen, und wenn, dann mit Vorurteilen gegen die „Polacken“ oder „Ostpocken“. Wer aus dem Lager kommt, steht unter einer Art Generalverdacht. Gibt es Positives in all dem Elend des Lagers? Die Frage wird nur in Teilen beantwortet. Es gibt Momente der Solidarität unter den Geflohenen und solche der Hoffnung. Manchen gelingt der Absprung.

 

Julia Franck, die ich 2007 bei einer Lesung aus dem Buch „Die Mittagsfrau“ ein wenig kennengelernt habe – sie erhielt damals den Deutschen Buchpreis –, ist eine freundliche, aber unbarmherzige Chronistin der Zustände in Berlin-Marienfelde. Manches hat sie wohl dort am eigenen Leib erfahren. Und bannt das Erlebte und Erfundene in eindrucksvollen Bildern, die uns an die Wirklichkeit des Lagerlebens am Ende des vorigen Jahrhunderts mitten in Berlin erinnern soll.

Dieses Buch ist als Taschenbuch bei Fischer unter der EAN 978-3-596-17952-7 erschienen und kostet 9,90 Euro.

 

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