Uwe Timm - Ikarien

Auch dieses Buch hat Deutschland und Hamburg zum Thema, und wie in der 1993 erschienenen Novelle „Die Entdeckung der Currywurst“ spielt die unmittelbare Nachkriegszeit ebenfalls eine wichtige Rolle. Allerdings beleuchtet Uwe Timm in „Ikarien“ das Thema „Rassenlehre und Euthanasie“ in Deutschland im „Dritten Reich“ anhand der Biografie des Biologen und Arztes Alfred Ploetz.

 

Erzählt wird aus zwei Perspektiven: der des amerikanischen Besatzungsoffiziers Michael Hansen, dessen Familie jüdischer Herkunft in den Dreißigerjahren in die USA ausgewandert ist. Er erhält ab 1945 in Bayern auf Initiative des amerikanischen Geheimdienstes den Auftrag, Leben und Umfeld des 1940 gestorbenen Ploetz zu ergründen.

 

Das soll Hansen durch Vernehmungen Karl Wagners tun, eines ehemaligen Freundes und Weggenossen von Ploetz. Wagner ist Vortragsredner und Mitglied der SPD in der Zeit des Kaiserreichs, später sympathisiert er mit anderen sozialistischen Bewegungen. Zusammen mit Ploetz fährt er nach Utah/USA und besucht dort Ikarien, eine Siedlergemeinschaft, die auf einem Roman des Franzosen Cabet basiert und einen demokratischen Kommunismus propagiert. Aber Ikarien, dem dieses Buch seinen Titel verdankt, scheitert. Wagner und Ploetz müssen erkennen, dass religiös motivierte, stark egalitäre Gemeinschaften wie die „Amana Gemeinde“ deutlich erfolgreicher sind.

 

Und Wagner berichtet weiter von der Schwierigkeit der Linken in Kaiserreich, Weimarer Republik und Nazizeit, von der Ohnmacht der Protagonisten in der kurzlebigen Münchner Räterepublik, von der Rache der Rechten an den Utopisten rund um Kurt Eisner. Wagner wurde im „Dritten Reich“ inhaftiert, auf Initiative von Ploetz freigelassen und musste sich jahrelang im Keller eines Antiquariats verbergen. Nach dem Krieg arbeitete er dort als Gehilfe.

 

Wagner erzählt über seine Freundschaft zu Ploetz, der ursprünglich Sozialist, fast eher Kommunist war, der später die „Rassenlehre“ zu seinem Forschungs- und Lebensthema auswählt und zum überzeugten Eugeniker und Professor im „Dritten Reich“ wird. Für uns heute fremd: Selbst in den Reihen der Sozialdemokratie wird im Europa der 1920er- und 1930er-Jahre die Frage nach dem Wert eines Menschen grundsätzlich diskutiert.

 

Das Buch beschreibt natürlich auch ausführlich das Lebensgefühl der Stunde Null im völlig zerstörten Deutschland, den Versuch der Menschen zu überleben, etwas Neues aufzubauen – oft auch, die Vergangenheit zu verdrängen. Es schildert die Besatzungspolitik der Amerikaner und Engländer, die versucht, die eigentlichen Schuldigen des „Dritten Reiches“ vor Gericht zu bringen. Und es thematisiert das allmähliche Auseinanderdriften von Ost- und Westzonen mit den Auswirkungen, die dieser Paradigmenwechsel auf die Behandlung des Vier-Zonen-Landes Deutschland hat.

 

Diesem beeindruckenden, vielschichtigen Roman wünsche ich viele Leser.

 

Der Titel ist unter der ISBN 978-3-462-05048-6 im Verlag Kiepenheuer & Witsch zum Preis von 24 Euro erschienen.

 

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